• Jahrzehntelang haben über hundert Kinder in den Heimen der Evangelischen Brüdergemeinde im baden-württembergischen Korntal körperliche und sexualisierte Gewalt erlebt.
  • Einer der Betroffenen ist Detlev Zander: Als er 2014 mit seinem Fall an die Öffentlichkeit ging, begann damit ein Aufklärungsprozess in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der nach wie vor nicht abgeschlossen ist.
  • Im Interview schildert der heute 59-Jährige, welche Qualen er in Korntal durchmachen musste und warum die EKD aus seiner Sicht bei der Aufarbeitung hinterherhinkt.

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Herr Zander, glauben Sie noch an Gott?

Detlev Zander: Nein, ich kann nicht mehr glauben. Ich werde auch aus der evangelischen Kirche austreten. Ich bin zu einer Institution gekommen, die mich hätte schützen müssen. Doch was ich erlebt habe, hat nichts mit der immer gepredigten Nächstenliebe zu tun, nichts mehr mit christlich. Wenn es wirklich einen Gott geben würde, dann frage ich mich: Warum hat er das zugelassen? Und warum lässt er das heute noch zu?

Sie sind also nach wie vor Mitglied in der Kirche. Warum sind Sie erst jetzt, im Alter von 59 Jahren, bereit, sich von der Institution zu trennen, die Ihnen seit Ihrem vierten Lebensjahr so sehr geschadet hat?

Im Heim bin ich sehr christlich erzogen worden. Ich bin sehr Bibel-affin, auch Kirchenmusik hat mir immer irgendwie Halt gegeben. Früher dachte ich, dass mein Leben eigentlich sehr gut verlaufen war. Ich bin Krankenpfleger, habe immer eine sehr gute Arbeit gehabt. Für mich war klar: Irgendjemand da oben behütet mich. Die Erkenntnis kam erst nach einem längeren Prozess: Vor sieben Jahren bin ich an die Öffentlichkeit gegangen, nach und nach sind mir mehr und mehr Widersprüche aufgefallen.

Welcher Art?

Die Bischöfinnen und Bischöfe reden ganz anders, wenn sie auf der Kanzel stehen und wenn sie mit uns Betroffenen reden. Dann können die knallhart, fast zum Teufel werden! Das war der Moment, an dem ich hinterfragt habe, an was ich selbst glaube. Ich finde: Glaube ist privat, die Institution Kirche braucht man nicht. Denn diese wurde von Menschen gemacht – den gleichen, die auch diese unvorstellbaren Verbrechen begangen haben.

Und dann kam der Schlussstrich?

Ja, ich kann das nicht mehr vor mir verantworten. Aber das ist mein persönlicher Entschluss.

Auf dem Foto ist Detlef Zander fünf Jahre alt.

„Ein abgeschlossener Kosmos, den wir nie verlassen haben“

Auf der einen Seite gibt es all diese christlichen Gebote und Regeln, auf der anderen Seite diese unvorstellbaren Verbrechen. In dem Fall Ihres Kinderheims, der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal in Baden-Württemberg, wurde nachweislich mindestens 140 Kindern massive psychische, physische und sexuelle Gewalt angetan. Wie konnte das geschehen?

Ich glaube, das hat damit zu tun, dass wir denen ausgeliefert waren.

Mit denen meinen Sie die Täter und Täterinnen, vom Stallknecht über Betreuerinnen bis hin zum Arzt und dem Gemeindepfarrer?

Ja. Korntal müssen Sie sich vorstellen wie einen abgeschlossenen Kosmos, den wir nie verlassen haben. Wir haben nie eine andere Gemeinde besucht. Es gab zwar Kinder, die konnten jedes Wochenende zu ihrer Familie nach Hause. Aber viele, so wie ich, hatten keine Eltern, wir konnten zu niemandem hin. Somit waren wir Freiwild! Auch für die Menschen, die uns nicht vergewaltigt haben, aber psychische, physische und religiöse Gewalt antaten.

Was meinen Sie mit religiöser Gewalt?

Unten im Keller bist du gefoltert worden und oben hat man uns unter Gewalt gezwungen zu beten und zu singen. Es gab den Zwang in die Kirche zu gehen, jeden Sonntag. Es gab richtige Teufelsaustreibung mit Schlägen. Und immer wieder Vorwürfe und Drohungen, „wenn du das nicht tust, dann kommst du in die Hölle!“. Für mich war das als Kind normal, im Nachhinein ist das nichts anderes als Zwang. Aus meiner heutigen Sicht ist das pure Machtdemonstration, Machtmissbrauch. Ob Pfarrer, Erzieherin, Hausmeister oder Heimleiter: Sie hatten alle quasi Macht über uns. Sexueller Missbrauch ist immer Machtmissbrauch, man darf das nicht damit abtun, dass das alle Pädophile waren. Wie der Hausmeister, der war nicht pädophil. Er hat die Kinder missbraucht und ihnen dann Fremdkörper eingeführt, ich habe das selbst erlebt. Der war sehr, sehr sadistisch geprägt. Und dieses Verhalten hat sich danach auch in meiner Wohngruppe gespiegelt, da gab es unerträgliche Prügelorgien.

Untereinander?

Nein, untereinander waren wir wie Kätzchen, wir hatten ja Angst. Die Betreuerinnen haben uns verprügelt. Wenn wir nichts gegessen haben oder es uns nicht geschmeckt hat. Und wenn wir uns erbrochen haben, dann haben sie unseren Kopf genommen und in das Erbrochene gedrückt. Sie haben uns gezwungen das zu essen. Egal was wir gemacht haben, es gab immer Schläge. Die Erzieherin hat sich daran aufgegeilt.

Das ist unfassbar – wie konnten Sie all das Grauen durchstehen?

Wenn ich heute darüber nachdenke, frage ich mich auch manchmal, wie ich das überlebt habe. Der Hausmeister hat mich immer im Gewölbekeller auf einer Werkbank vergewaltigt. Als Kind entwickelst du dann eine Strategie, wo dir das am Schluss gar nichts mehr ausmacht. Ich habe mich abgespaltet wie ein totes Reh. Ich hab mir Eckpunkte gesucht und mit den Fingern gemalt. Auf dieser Werkbank war das Ulmer Münster, dann habe ich immer gespielt, der Mond ist rund, der Mond ist rund. Somit habe ich nichts mehr gespürt. Das war ein reiner Schutzreflex, sonst überlebt man das nicht.

Die ehemalige Richterin Brigitte Baums-Stammberger, der Erziehungswissenschaftler Bruno Hafeneger und der Sozialwissenschaftler Andre Morgenstern-Einenkel legten 2018 einen Aufklärungsbericht zu den Gewalttaten in Korntal vor. Sie hatten dafür 105 Betroffene interviewt, darunter auch Zander. Die Aufklärer kamen zum Ergebnis, dass 56 ehemalige Heimkinder sexualisierte Gewalt, 85 psychische Gewalt und 93 physische Gewalt erlebt haben. Von den 81 beschriebenen Tätern hätten sich acht als Intensivtäter herausgestellt, darunter auch der Hausmeister.

Detlev Zander betrachtet Fotos aus der Zeit im Kinderheim der Brüdergemeinde Korntal.

„Für mich war klar, mir glaubt sowieso niemand etwas“

Haben Sie die Vergewaltigungen damals jemandem erzählt?

Ich bin ein einziges Mal zu meiner Erzieherin und sagte ihr: „Du, Tante Gerda, mein Popo blutet so.“ Da war ich vier oder fünf. Dann hat sie mich so geschlagen, mir nur Watte mit einem alten Fieberthermometer reingesteckt und ich musste oben im Zimmer bleiben. Für mich war dann klar, mir glaubt sowieso niemand etwas.

Wann hatte Ihr Leid ein Ende?

Bei mir ging das bis in die Pubertät, dann waren die Vergewaltigungen plötzlich vorbei. Die psychischen Misshandlungen gingen aber weiter. Mit 14 habe ich einen Suizidversuch unternommen. Den Abschiedsbrief habe ich vor ein paar Jahren in meinen Akten gefunden, das war ein Hilferuf. Ich habe mich gefragt, warum die Sachbearbeiterin damals nicht zu mir gekommen ist. Heute weiß ich: Das christliche Heim stand eben im Vordergrund.

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Gab es überhaupt eine Person in dem Heim, die Sie oder andere Kinder beschützt oder Ihnen irgendwie geholfen hat?

Es gab niemanden! Im Nachhinein haben einige behauptet, ihnen sei etwas aufgefallen. Aber sie haben nichts gemacht, niemand hat sich entschuldigt oder um Vergebung gebeten – im Gegenteil. Viele sind der Brüdergemeinde beigesprungen und haben die Vorfälle heruntergespielt: „Da ist nicht so schlimm, früher ist das so gewesen, da gab es halt mal Schläge.“ Heute bin ich mir aber sicher, dass ganz viele Leute das mitbekommen haben.

Allein in Korntal konnten 81 Täterinnen und Täter ermittelt werden, sie wurden aber nie verurteilt, weil alle Fälle verjährt waren.

Meine Haupttäterin lebt noch, sie ist jetzt weit über 80. Aber es waren so viele, die Leute müssen das mitbekommen haben! Und ganz viele haben auch mitgewirkt, noch mehr haben jedoch weggeschaut. Weder die Heimaufsicht noch der Staat haben kontrolliert, was in Korntal passiert. Alle gingen davon aus, in einem christlichen Heim, zumal einem evangelischen, passiert nichts. Die Kinder seien da gut aufgehoben…

Einer der Tatorte: Das Haupthaus des Kinderheim Hoffmanns in Korntal im Jahr 1965.

„Ich habe lieber nach vorne geschaut“

Sie sind 2014 an die Öffentlichkeit gegangen. Warum, glauben Sie, hat in den Jahrzehnten davor nie jemand etwas gesagt, obwohl es ja offensichtlich so viele Menschen unmittelbar mitbekommen haben?

Ich glaube, es ist ein Tabuthema. In meinem Fall war es so. Mir ging es aber mit dem Schritt in die Öffentlichkeit sehr gut, ich konnte das alles sehr gut verdrängen – außer was Ehe und Nähe angeht. Ich habe schon immer gewusst, mit mir stimmt irgendwas nicht. Ich war oft in therapeutischer Behandlung, hatte Depressionen. Zugleich habe ich mich in die Arbeit gestürzt, ich bin bewusst in die Krankenpflege gegangen. Ich habe gedacht, dort sind alle weiß, die stinken nicht nach Öl, die tun mir nichts und die helfen dir. Und ich wusste, dass ich sofort eine Wohnung und etwas zu essen bekomme. Ich musste mich um nichts kümmern.

Wann war das? Wann sind Sie aus dem Heim raus?

Das war 1977, mit 16. Durch die Ausbildung konnte ich das Heim verlassen.

Ein gängiger Vorwurf gegen Sie und andere Betroffene ist, dass Sie die Vorfälle nicht schon damals angezeigt haben.

Man hatte noch so viel Angst. Als ich in therapeutischer Behandlung war, vermutete man schon, dass es sexuellen Missbrauch gegeben haben muss. Aber ich war lange nicht bereit zu reden. Dazu kommt: Korntal ist bis heute sehr, sehr mächtig. Einfach zur Staatsanwaltschaft zu gehen, war damals gar nicht möglich. Statt mich auf das Heim zu fokussieren, habe ich lieber nach vorne geschaut. Die Krankenpflege war für mich die Rettung. Ich habe meine Geschichte für mich angenommen und kann damit relativ gut leben. Trotzdem habe auch ich meine Schwierigkeiten, ich habe nach wie vor Flashbacks und mache nachts ins Bett, wenn ich ganz schlimme Alpträume habe.

Wie hat die Gemeinde reagiert, als Sie die Vergewaltigungen und die Gewalt öffentlich gemacht haben?

Die Brüdergemeinde hat versucht, mich erst einmal mundtot zu machen: „Der lügt, das stimmt alles nicht.“ Aber ich habe nicht locker gelassen. Was ich erlebt hatte, musste an die Öffentlichkeit. Wir müssen Klartext sprechen: Es gab Vergewaltigungen und sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche. Ich spreche immer ganz bewusst von sadistischen Vergewaltigungen und tatsächlicher Gewalt.

Detlev Zander als Achtjähriger bei einem Ausflug.

„Für Missbrauchsopfer gibt es keine normale Anlaufstelle“

Als Sie die Fälle in Korntal publik machten, taten viele überrascht, weil man bis dato vergleichbare Taten nur in der katholischen Kirche kannte. Ist das Problem bei den Protestanten tatsächlich weniger verbreitet – oder nur anders?

Aus meiner Sicht kann man nicht sagen, der katholische Kontext sei schlimmer als der evangelische – beide Kirchen tun sich da nichts. Beide sind genauso schlimm und furchtbar. Johannes-Wilhelm Rörig (der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, kurz UBSKM, Anm. d. Red.) hat viel geleistet, er hat das Thema sprachfähig gemacht. Aber er hat den katholischen Kontext zu sehr in den Vordergrund gestellt. Für uns protestantische Betroffene gab es weniger Unterstützung. Wenn ich nicht so gekämpft hätte, hätte die Evangelische Kirche in Deutschland, die EKD, die Diakonie nie mit untersuchen lassen. Damit wären auch die Heime hinten runtergefallen, genauso wie die Schulen. Doch gerade dort gibt es zig tausend Missbrauchsopfer. Die EKD sagt immer: „Wir arbeiten auf.“ Aber wir können nicht aufarbeiten, bevor wir nicht aufgeklärt haben und wissen, was ist wann und wo geschehen. Jede Landeskirche macht, was sie will, man weiß nicht, wer für was zuständig ist. Für Missbrauchsopfer gibt es keine normale Anlaufstelle.

Die EKD hat im Juli 2019 die Zentrale Anlaufstelle Help eingerichtet, an die sich alle wenden können, die Übergriffe in der Kirche und Diakonie erlitten haben. Was ist mit der?

Ja, die haben sie gemacht. Die dient aber mehr als Callcenter. Ich habe da mal angerufen und meinen Fall geschildert. Sie haben mich quasi an die Landeskirche Württemberg verwiesen. Aber genau das wollen die Menschen ja nicht, sie wollen eine unabhängige Anlaufstelle, sie können ja nicht zu ihrem Täter gehen! Die Kirche kann nicht zugleich Täterorganisation, Schutzeinrichtung und Richterin sein, die entscheidet, was an die Öffentlichkeit geht, was gemacht und wie es bearbeitet wird. Obendrauf bestimmt sie noch, was man als Entschädigungszahlung bekommt – das ist doch pervers!

Was fordern Sie?

Wie in der katholischen Kirche brauchen wir in der evangelischen Kirche einerseits einen Missbrauchsbeauftragten, das muss eine Bischöfin oder ein Bischof sein. Zum anderen ist eine riesige, umfassende Studie nötig, die Fallzahlen ermittelt sowie Fehler und Probleme klar und deutlich benennt. Für die katholische Kirche hat es eine solche Untersuchung zum sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch Geistliche gegeben.

Und was macht die EKD?

Die zäumt das Pferd von hinten auf. Auch die EKD macht jetzt eine Studie, ich bin da in den Beirat berufen worden. Aber wir kriegen da keine Zahlen. Die Leute melden sich bei den Landeskirchen, beim UBSKM, bei Forschern, bei den Anlaufstellen für ehemalige Heimkinder oder auch direkt bei mir. Wegen dieses Flickenteppichs hat niemand einen Überblick. Es braucht eine unabhängige dritte Partei, zum Beispiel eine große Kanzlei. Die muss damit beauftragt werden, eine Anlaufstelle einzurichten, sodass sich dort erst einmal alle Betroffenen melden können. Es geht nicht darum, dass die Opfer dort alles erzählen, was sie erlebt haben, sondern darum, überhaupt erst einmal erfasst zu werden.

Detlev Zander zeigt ein Foto aus seiner Zeit in einem Kinderheim der Brüdergemeinde Korntal.

„Es ist nichts passiert“

Gibt es denn eine Landeskirche, die es aus Ihrer Sicht gut macht?

Ich finde, die Landeskirche Württemberg macht das gut, trotz allem. Die Frau Kress (Ursula Kress, Ansprechperson bei sexualisierter Gewalt der Evangelische Landeskirche in Württemberg, Anm. d. Red.) geht unheimlich gut und sehr professionell mit den Betroffenen um. Sie versucht, unabhängig zu sein – wobei das natürlich nicht vollständig möglich ist.

Wie sollte aus Ihrer Sicht die Aufarbeitung ablaufen?

Die Kirchen, die Täterinnen, können selbst nicht aufarbeiten. Diese Aufgabe muss ihnen weggenommen werden. VW oder Daimler haben den Dieselskandal ja auch nicht selbst aufgearbeitet. Mein Wunsch wäre eine Kommission wie in Irland (dort gab es eine öffentliche Untersuchung unter der Führung eines Richters, Anm. d. Red.). Aber dass wir so etwas bekommen, daran glaube ich nicht.

Im November 2018 hatte die EKD verkündet, den Missbrauch in ihren Gemeinden und Einrichtungen lückenlos aufklären zu wollen. Was ist seitdem geschehen?

Außer einem Elf-Punkte-Plan und vielen leeren Worte: nichts. Es ist nichts passiert. Es wird ein bisschen rumgeforscht, aber eine tatsächliche Aufklärung gibt es nicht. Und dann hat man noch einen Betroffenenbeirat installiert…

„Die Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt ist der EKD und ihrer Diakonie sowie den Landeskirchen der EKD ein zentrales Anliegen“, teilte ein EKD-Sprecher auf Anfrage unserer Redaktion mit. Er verwies auf die Internetseiten der Kirche www.ekd.de/missbrauch sowie www.hinschauen-helfen-handeln.de. Demnach ist die „Aufarbeitung für den evangelischen Bereich“ noch nicht abgeschlossen.

… dessen Arbeit die EKD im Mai nach nur sieben Monaten ausgesetzt hat. Warum?

Der Betroffenenbeirat wurde von Seiten der EKD ausgesetzt, weil wir Betroffenen uns untereinander gestritten hätten. Von fünfzehn Mitgliedern sind erst sieben, später acht zurückgetreten. Die Kirche stellt sich nun als Opfer dar. Sie meint, sie hätten es probiert, aber wir seien schuld. Es gab aber keine klaren Strukturen und wir hatten kein Mandat. Wir standen nie richtig in Kontakt mit den Bischöfen. Wir wurden gehört, aber bekamen nie Antworten. Die EKD hat uns nicht mitgenommen und uns auch keine Fragen gestellt. Probleme wurden kleingeredet, die Betroffenen nicht ernst genommen. Für mich war der Beirat ein reines Feigenblatt, nun herrscht seit Monaten Funkstille. Wir sind im Jahr 2021 und stehen eigentlich bei der evangelischen Kirche bei der Aufklärung und der Aufarbeitung am Anfang.

Die EKD erklärt den Hintergrund der Aussetzung des Betroffenenbeirats so: „Nach den Rücktritten mehrerer Mitglieder (…) und einem Antrag auf Auflösung aus dem Gremium heraus ist die bisherige Konzeption gescheitert“, heißt es in einer Mitteilung vom 10. Mai. Die Arbeit des bisherigen Gremiums werde deshalb zunächst ausgesetzt und „extern ausgewertet“. „Auf der Grundlage der Evaluation sollen gemeinsam mit den ursprünglichen Mitgliedern des Betroffenenbeirats neue Formen der Beteiligung diskutiert werden“, heißt es weiter.

„Die Beteiligung von Betroffenen an der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ist für die evangelische Kirche zentral und unverzichtbar. Daran halten wir fest“, sagte der Sprecher des Beauftragtenrates, der Braunschweiger Landesbischof Christoph Meyns. „In der aktuellen Situation ist jedoch deutlich geworden, dass die bisher gewählte Form der Beteiligung an Grenzen gestoßen ist. Das ist für alle Beteiligten äußerst schmerzlich.“

Detlef Zander

„Nur eine Simulation von Aufklärung“

Was den Komplex anbelangt, den Sie als „Kinderhölle Korntal“ bezeichnen, ist man also in all der Zeit nicht vorangekommen?

Nein, es ist nur eine Simulation von Aufklärung, obwohl über drei Millionen Euro Forschungsgelder locker gemacht wurden. Es ging bisher nur darum, die eigenen Schäfchen und die Öffentlichkeit zu beruhigen. Eine tatsächlich unabhängige Aufklärung gibt es in der evangelischen Kirche nicht. Die EKD gibt selbst die Forschungsaufträge heraus und legt darin fest, was sie wissen will. Und das bezeichnet sie dann als unabhängig. Die EKD versteht nicht, dass sie auch etwas an ihren Strukturen verändern muss.

Sie wollen von der EKD gar keine Entschuldigung haben, sondern ein glaubhaftes, öffentliches Statement. Wie sollte das aussehen?

Diese Verbrechen kann man nicht entschuldigen, das geht nicht. Jeder Betroffene möge das aber für sich entscheiden, viele möchten eine Entschuldigung. Aber ich selbst bestimme, ob ich der Kirche das Recht gebe, um Verzeihung zu bitten. Viel wichtiger ist, dass die EKD ihren Worten endlich Taten folgen lässt und den Menschen den Rücken stärkt. Ich wünsche mir, dass sich ein Bischof oder eine Bischöfin einmal in uns hineinversetzt und sich fragt: Wie hätte ich reagiert, wenn das meine Tochter oder mein Sohn gewesen wäre?

Zur Person: Detlev Zander, 59, ist Mitglied im Betroffenenbeirat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und des Netzwerk-Betroffenen-Forums. Als Kleinkind kam er in ein Heim der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal in Baden-Württemberg, wo er laut eigener Aussage ab dem vierten Lebensjahr sexuelle, physische und psychische Gewalt erlebte. Nachdem die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche und der Odenwaldschule publik wurden, wandte sich Zander an die Öffentlichkeit. Er gilt als entschiedener Kritiker der Aufarbeitungsbemühungen der EKD.

Wenn Sie selbst von sexueller Gewalt betroffen sind, wenden Sie sich bitte an das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch 0800 22 55 530 (Deutschland), die Beratungsstelle für misshandelte und sexuell missbrauchte Frauen, Mädchen und Kinder (Tamar) 01 334 0437 (Österreich) beziehungsweise die Opferhilfe bei sexueller Gewalt (Lantana) 031 313 14 00 (Schweiz). Wenn Sie einen Verdacht oder gar Kenntnis von sexueller Gewalt gegen Dritte haben, wenden Sie sich bitte direkt an jede Polizeidienststelle.

Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 08 00/ 11 10 – 111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).